Von der Leinwand sprachen die Kinder des Exils im Film von Thomas Grimm in die gebannte Stille im gut gefüllten großen Ratssaal im Rathaus Birkenwerder am 20.10.2023.
Vor 50 Jahren nach dem Putsch der Militärs in Chile im September 1973 flohen die Kinder mit ihren Eltern auf unsicheren Wegen ins Exil in die Bundesrepublik oder DDR. Sie stehen für viele der insgesamt ca. 7000 Chileninnen und Chilenen, die in der Zeit der Militärdiktatur nach Ost- oder West-Deutschland geflohen sind. Der Film leiht den damals 3-, 5- oder 9- jährigen Kindern eine Stimme. Aus heutiger Sicht, so erzählt es Camilo, einer der Protagonisten im Film, sei das Handeln der Mutter und des Vaters verständlich, aber als Kinder spürten er und seine Geschwister nur, dass etwas Schreckliches im Gange war.
Der Film lädt erstmals dazu ein, die Geschichten der Kinder von Flucht und Exil in der DDR und der BRD aus ihrer Sicht zu erzählen. Gemeinsam ist ihnen das Gefühl der Einsamkeit und des Verlassen-worden-seins von der Welt. Bewundernswert ist die Offenheit, mit der die heute erwachsenen Männer und Frauen ihre Erfahrungen und die Bedeutung für ihr Leben vor der Kamera von Thomas Grimm reflektieren.
Keineswegs so schildert es Andrea, wollte sie unbedingt zurück nach Chile, als sich ihren Eltern die Chance bot, zu zerrissen war sie als Jugendliche mit der Frage ihrer Identität: Deutsche, Chilenin oder Exilierte? Eine Zerrissenheit, die anhält. Für Claudia stellte sich die Frage nicht. Sie blieb in Hamburg, um dort als Jugendliche in einer Punkband ihrer Wut ein Ventil zu geben. Überhaupt Musik: Der Film lebt von einer äußerst sorgfältig zusammengestellten Auswahl der Musik, und wird dadurch selbst zu einem bedeutsamen Dokument des Widerstands gegen die Diktatur und gegen die Vereinsamung im Exil. Trotz der geschilderten schmerzhaften Erfahrungen klagt der Film nicht an. Er rüttelt wach und macht auf die lebenslangen Folgen von Vertreibung und Flucht für Kinder aufmerksam, die sich auch als Erwachsene fragen müssen, welche Identität sie haben (wollen). Damit greift der Dokumentarfilm ein höchst aktuelles Thema auf.
Nach dem Film bot sich bei Wein und Häppchen die Gelegenheit, mit dem Regisseur Thomas Grimm und Claudia González und Leonardo Rodriguez, Mitwirkende im Film, ins Gespräch zu kommen. Angelika Stobinski, von der AG Brot und Salz führte klug durch den Abend. Auf Nachfrage erläuterte Thomas Grimm, dass die Idee zum Film zusammen mit seinem ebenfalls exilierten chilenischen Kameramann entstand, der über viele Jahre chilenische Familien im Exil filmisch begleitet hatte. Auf dieses historische Material greift der Film zurück. Das ermöglicht besonders persönliche Einsichten in das private Leben der Kinder. Claudia stellt erschreckt fest wie ähnlich die Erfahrungen des Exils für die Kinder waren, obwohl sie in unterschiedlichen Ländern Deutschlands lebten. Auf die Frage, wie er sein Leben in der DDR empfand, fasst Leonardo zusammen: wir hatten Sicherheit, eine Wohnung und konnten zur Schule gehen. Aber Kinder brauchen mehr. Sie brauchen Erklärungen.
Viel mehr Fragen hätten gestellt werden wollen, viel mehr Austausch wollte gesucht werden, doch technische Schwierigkeiten mit der Alarmanlage beendeten den Abend viel zu früh. Etwas Trost bereitet das Buch zum Film 9/11 Santiago – Flucht vor Pinochet. Kinder des chilenischen Exils in Deutschland (mit DVD), mit Portraits und Hintergrundinformationen. Es ist zu beziehen über die Bundeszentrale für politische Bildung.
Die Filmveranstaltung Kinder des Exils von Thomas Grimm wurde auch möglich durch die Unterstützung des Aktionsbündnisses Brandenburg gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Rassismus. Die Veranstaltung ist ein weiteres Beispiel für die überregionale Zusammenarbeit der AG Brot und Salz des Kulturkreises Hohen Neuendorf e. V. mit dem Förderverein Kulturpark Birkenwerder/Kulturpumpe e.V. und der Willkommensinitiative Birkenwerder e.V..
Text: Anne Wihstutz / Foto: Georg Klein